Der stille Wettbewerb des Leidens

…und der Weg hinaus!

Leiden – im Sinne seelischer Schmerzen kann Teil unserer menschlichen Reise sein. Häufig ist es ein Erkenntnisweg, denn nur wer tiefen Schmerz einmal gefühlt hat, spürt auch ganz klar, dass darauf große Freude folgt. Doch in unserer Gesellschaft hat sich etwas Eigenartiges entwickelt: Ein unausgesprochener Wettkampf darum, wer mehr leidet, wer schwerer trägt, wessen Wunden tiefer sind. Schmerz wird zum Maßstab, zum Mittel, um Anerkennung oder Aufmerksamkeit zu erlangen. Und während wir uns in unseren Geschichten des Leids verstricken, vergessen wir oft, dass es nicht darum geht, wer die schwerste Last trägt – sondern wie wir mit ihr umgehen.

Der versteckte Kampf um das größere Leid

„Du denkst, du hast es schwer? Warte, bis du meine Geschichte hörst.“ Ein Satz, der selten ausgesprochen, aber oft gedacht wird. Wir vergleichen unsere Schmerzen, unser Unglück, unsere Kämpfe – sei es in Gesprächen, auf sozialen Medien oder still in unseren Köpfen, beim sonntäglichen Kaffee bei Nachbarn. Manchmal geschieht es bewusst, doch häufig unbewusst. Dieses unbewusste Feld möchte ich heute öffnen. Warum wetteifern wir und definieren uns über Leid?

Leid kann eine Form der Identität werden. Es gibt uns das Gefühl, besonders zu sein, vielleicht sogar wertvoller oder authentischer. Wer leidet, hat Tiefe, so sagt man. Doch wenn wir im Leid verharren, definieren wir uns nur über das, was uns fehlt, anstatt über das, was wir sind. Oft steckt dahinter ein starker Leistungsantreiber oder aber auch die tiefe Sehnsucht danach gesehen zu werden (vgl. Mutter-Vater-Kind-Triade: „Schaut her! Hier bin ich! Schaut, was ich kann!“)

Ein Ausweg: Annehmen – Loslassen – Im Moment sein

Der Weg aus diesem endlosen Kreislauf beginnt mit einer simplen, aber herausfordernden Erkenntnis: Leid ist nicht unser Feind, aber es darf uns nicht definieren. Hier sind vier Schritte, die helfen können:

1. Annehmen, was ist
Oft kämpfen wir gegen das, was bereits geschehen ist. Doch jeder Widerstand gegen die Realität ist verlorene Energie. Schmerz darf sein, Gefühle wollen gefühlt werden. Annehmen bedeutet nicht, gutzuheißen, sondern zu erkennen: Es ist, wie es ist.

2. Loslassen, was war
Verletzungen der Vergangenheit sind real, aber wir entscheiden, wie lange wir sie tragen. Loslassen bedeutet nicht zu vergessen, sondern nicht mehr festzuhalten. Der Schmerz war ein Kapitel, aber er muss nicht die ganze Geschichte sein. Er darf neben Freude und Glückseligkeit ebenso co-existieren, frei von steter Energiezuwendung und Bewertung.

3. Im Moment sein
Leid lebt oft in Vergangenheit oder Zukunft – in dem, was war oder was sein könnte. Doch das Leben geschieht nur jetzt. Ein tiefer Atemzug, ein bewusster Moment der Stille, eine kurze Dankbarkeit für das, was gerade ist – all das bringt uns ins Jetzt, wo Leiden keinen festen Halt hat.

4. Akzeptieren, was kommt
Das Leben ist weder plan- noch kontrollierbar und Schmerz wird immer wieder auftauchen. Doch wenn wir aufhören uns gegen ihn zu wehren, verliert er an Macht. Wir können ihn durchleben, anstatt ihn zu bekämpfen. Wir können ihn erfühlen, dürfen ihn jedoch vom Siegerpodest „Mensch mit größtem Leid weltweit“ stoßen, weil wir dadurch nicht mehr wert und auch nicht wichtiger oder unendlicher sind im Weltengeschehen. Jeder Moment ist eine neue Gelegenheit, anders zu reagieren.

Leiden als Lehrer, nicht als Lebensinhalt

Leid kann uns etwas lehren, wenn wir es zulassen. Doch es sollte niemals unser Wertmesser oder unsere Identität werden. Wir sind mehr als unsere Wunden. Mehr als unsere Kämpfe. Und vielleicht, wenn wir aufhören, unser Leid zu vergleichen, erkennen wir, dass wir alle gemeinsam auf dem Weg sind – und dass der Weg selbst das Ziel ist.

Wie erlebst du das? Spürst du auch, dass bestimmte Sätze, deine Mimik oder Körpersprache (bis hin zu körperlichen Schmerzen/Symptomen?) darauf ausgelegt sind, großes Leid zum Ausdruck zu bringen? Ich freue mich auf deine Gedanken dazu…

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