Briefe an Markus III

Briefe an Markus – Teil III

Lieber Markus,

heute vor einem Jahr hast du deine Entscheidung getroffen dein Leben zu beenden. Es ist einer dieser Tage, an denen die Stille deiner Abwesenheit besonders laut ist. Ich frage mich, ob dir in deinem Innersten bewusst war, dass es Menschen gibt, für die dein Verschwinden ein Echo hinterlässt, das nicht verstummt. 2012 während dem Ausbruch meiner generalisierten Angststörung (Todesangst) habe ich erkennt, dass die steige Auseinandersetzung und das Akzeptieren der eigenen Vergänglichkeit kein Zeichen von Schwäche ist, sondern ein wichtiger Schritt, um mein Leben wirklich zu starten, bewusst zu werden und wirklich zu leben. Max Frisch sagte einmal sinngemäß, dass wir nur durch das Todesbewusstsein das Leben als echtes Wunder erfahren können. Diese Ansicht teile ich, besonders nach deinem Suizid genau heute vor 1 Jahr. Ich erkenne, dass ich, um dich wirklich zu ehren, besonders intensiv leben „darf“. Ich darf mir erlauben, dass das Leben für mich nach meinen Bedürfnissen und Vorstellungen und nach denen unserer Tochter weitergehen soll und es auch tut. Ich darf mich und wie ich war während unserer gemeinsamen irdischen Reise annehmen. Ich darf mir verziehen – für all meine Fehler, Zweifel, Projektionen und Unsicherheiten. Besonders während der letzten 4 Krisenjahre unserer gemeinsamen Reise. Denn nur so kann ich jetzt und in Zukunft auch anderen in ihrem Schmerz begegnen in meiner Berufung als Coach, ohne in den Vergleich zu verfallen. Sag, hast du dir auch verziehen? Es gab oft Momente, wo du zugabst, dass die Härte, die du zum Ausdruck brachtest, der niedere Selbstwert, der Fokus auf Macht, Status, Ego und Anerkennung nicht du selbst warst. Du glaubtest es ginge um Einkommen und Karriere; das große Eigenheim. Dabei gab und gibt es so viele andere Dinge für die es wert ist zu leben und im Moment anzukommen.

Manches erkennt man erst, wenn es zu spät ist: Dass Worte ungesagt bleiben können. Dass Menschen nicht ewig da sind. Dass Zeit nichts ist, was sich aufschieben lässt. Und dass das, was wir in uns tragen, oft schwerer wiegt als das, was wir nach außen zeigen. Wie kam es dazu, dass du tatsächlich dem Irrtum unterlaufen bist, dass die Welt ohne dich besser dran wäre? Da war nichts und niemand mehr, der dich hielt, kurz bevor du gingst. Das bewegt mich tief im Inneren, lässt mich mitfühlen und dir Liebe in die andere Dimension senden in der du jetzt bist. Ob du gezögert hast, als du die Vorrichtung zusammengetragen hast und auf diesen Stuhl gestiegen bist? Ob ein einziger Moment der Hoffnung gereicht hätte, um dich noch einmal umzudrehen? Ob es friedlich ist da wo du jetzt bist? Fragen, die ich mir viele Male stelle, die jetzt aber keine Relevanz mehr haben, denn das „was-wäre-wenn-Spiel“ kostet einfach zu viel Lebenskraft. Es erweist sich als sinnlos weiter in diese gedanklich-metaphorische Einbahnstraße ins Nirgendwo abzubiegen. Es ist wie es ist. Und auf eine Art, die der Verstand absolut verneint, ist es so wie es ist in Ordnung. Offensichtlich, denn eine andere Wahl möchte ich nicht treffen. Es würde ein Leben in tiefem Schmerz und Widerstand bedeuten. Ich würde ablehnen was ist und damit mein Leben und das unserer Tochter verpassen.

© Christine Kostner Photography // bildergeschichten.camera

Seele ist unendlich und weise. Der Kopf (mein Kopf) wird nie begreifen wie dein Leben endete. Die Bürokratie und die nicht enden wollenden Verwaltungsaufwände bringen immer wieder Herausforderungen mit sich. Sie werden leichter durch die Übung. Und ein Teil von mir ist mittlerweile unerschütterlich. Ich bin bereit für jede einzelne und doch erkenne ich innerhalb unseres kapitalistischen, egozentrierten Weltbildes eines: Selbst wenn wir sterben verdienen unglaublich viele Menschen, die wir nicht kennen, Geld. Es gibt plötzlich Rechnungen, Gutachten und Tarife, obwohl das Herz des Menschen, um den es geht, nicht mehr schlägt. Ich frage mich oft, wer der Spielemacher in dem ganzen Irrsinn ist Versteh‘ mich richtig, Markus. Es geht nicht um Geld, Gier, Geiz und alle Konzepte und Agenden rund um Geld. Es geht mir mit diesem Aspekt rund um deinen Suizid um die Frage: „Wann sind wir Menschen wirklich Menschen? Sind wir überhaupt jemals frei, wenn sogar der Tod eines Menschen das Einkommen vieler anderer impliziert?“. Ich hab‘ das Gefühl wir sind wie kleine Ameisen. Spazieren rund um den Erdball, nehmen Geld ein, geben Geld aus, machen uns glücklich, dann wieder verrückt und wenn wir wieder zu Staub und Asche werden, stellen Menschen, die wir nie persönlich kennenlernen werden, an kirschfarben-vergilbten Schreibtischen aus den 60ern mit Sahara-trockenen Stempelmarkenkissen sitzend, auf ihre herannahende Pension wartend, Rechnungen fürs Sterben. Klingt plausible. Absolut plausibel. (NOT!)

Ich habe dich so viele Jahre gefragt wie es dir ging. Jedes Mal hast du abgeblockt, obwohl wir beide spürten, dass da etwas Großes tief in dir schlummerte. Ich hab‘ dich bestärkt, dass du nicht alleine bist. Dass du Menschen hast, die dich unterstützen und dass es da unsere Tochter gibt, die dich bis in die nächste Galaxie liebt und vergöttert. Du entschiedest dich für Scherze oder Schweigen, für Vermeidungsstrategien und Distanz. Dein letzter Satz klingt noch immer nach. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich höre ihn heute, an deinem 1. Todestag umso lauter: „Ich habe kein Urvertrauen.“ Und meine Antwort darauf war ein Angebot – eines, das zu spät kam: „Lass uns darüber unter vier Augen sprechen.“ Deine Antwort: „Okay, danke für alles.“ Danach war da nur noch eine Umarmung. Innig. Vielleicht die ehrlichste seit Langem.

Wir hatten nicht das einfachste Verhältnis seit 2021. Es gingen Anteile mit dir durch, die sind retrospektive nicht in Worte zu fassen. Ehrlicherweise ist auch nicht länger wichtig, wann ich in meiner düstersten Inkarnationsversion war und wann du. Wer wann was (nicht) gesagt oder (nicht) getan hat. Blablabla. Ich wollte letztendlich nicht, dass wir zu einem dieser Familiendramen werden in der Boullevardpresse auf Seite 12. Viel war unausgesprochen, deine tiefen Verletzungen wucherten und siechten. Du sagtest noch immer, dass alles in Ordnung wäre. Es ist, wie es ist. Und auch wenn mein Verstand sich dagegen wehrt: In einem größeren Zusammenhang ist es vielleicht sogar ein Teil des Weltengeschehens. Denn etwas in mir weiß, dass Seele nicht endet. Dass das, was wir wirklich sind, nicht mit dem letzten Atemzug verschwindet. Ich gehe weiter auf meinem Weg, zusammen mit unserer Tochter und mit der Erinnerung an dich. Nicht als Last, sondern als Teil unseres Lebens und Lernens, denn dafür sind wir ja hier, richtig? Du bist nicht weg. Du bist da, in Gedanken, in dem, was uns bewegt. In dem, was wir heute durch deinen Suizid, dein aus-der-Welt-gehen bewusster wahrnehmen. Manchmal, wenn es ganz still ist, fühlt es sich an, als wärst du näher als je zuvor. Vielleicht schickst du uns ja Zeichen. Das Leben ist ein Geschenk – was Morgen kommt und unser Seelenplan vorsieht, wissen wir nicht. Es entzieht sich unseres Tagesbewusstseins und unserer Logik.

„Ich bin nicht tot,
ich tausche nur die Räume,
ich leb‘ in Euch und geh‘
durch Eure Träume.“
(Michelangelo Buonarroti)

Danke, dass du gelebt hast! Danke, dass du auch so viele schöne, gute, witzige Erinnerung zurückgelassen hast. Ich entscheide mich klar dazu, dass das die Anteile sind, die bleiben, die wir ehren und schätzen. Danke, dass du uns mit deinem Suizid gezeigt hast, dass das Leben, so zerbrechlich es auch sein mag, immer wieder die Chance auf einen Neuanfang bietet. Durch deinen Suizid wurde mein innerer, seelischer Ruf für die Menschen da zu sein die mich wollen und mit ihnen durch tiefe Krisen und Herausforderungen zu sein. Durch dich und diese Erfahrung kommen Elena und ich immer wieder im Jetzt an, der einzig wahren Zeiteinheit, die es gibt: dem gegenwärtigen Augenblick. Manchmal traurig über dein körperliches-nicht-mehr-Sein, aber überwiegend freudig über die witzigen Begebenheiten, Statements und Charaktereigenschaften. Und letztlich mit der Aussicht auf ein richtig schönes Leben. Wir ehren und schätzen unser Leben, unser Dach über dem Kopf, unsere körperliche, emotionale und seelische Gesundheit. Danke, dass du ganz wichtige Spuren der Liebe für Elena hinterlassen hast, die bleiben. Du bleibst unvergessen, Markus! Möge deine Seele Frieden finden!

In Verbundenheit,
Heidi und Elena

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2 thoughts

  1. Deine Worte berühren mich und helfen auch mir wieder einen Schritt weiter zu kommen und kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, weil ich teilweise „froh“ bin, dass ich etwas ähnliches erlebt habe wie du. Bei mir war es halt der Tod meines Mannes und Vater meiner zwei Kinder durch Krebs vor 13 Jahren.
    Diese Erfahrung hat mich reifen lassen, mich auf meinem Weg weitergebracht, mir neue Chancen und Möglichkeiten eröffnet und dafür bin ich so dankbar. Ich bin reifer, selbstbewusster und selbstständiger geworden.
    Ich lebe jetzt wieder in einer wundervollen Beziehung und ich wünsche dir das gleiche.

    Danke für deine wunderschönen Worte.

    Doris

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    1. Ich danke dir so sehr fürs Teilen deiner Geschichte. Ich fühle mich dir sehr nahe und spüre, dass auch du durch tiefe Prozesse gegangen bist und es weiterhin tust. Auch für dich viel Liebe und Energie. Unfassbar – deine Stärke ist inspirierend! Genieße deine wundervolle Beziehung! Alles Liebe, Heidi

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