Briefe an Markus II

Briefe an Markus II

Lieber Markus,

es vergeht kein Tag, an dem Elena und ich nicht über dich sprechen. Und doch geht das Leben weiter. Es ist ein merkwürdiger Widerspruch: Dein Fehlen bleibt konstant, aber der Rest der Welt verändert sich. Anfangs hatte ich Angst davor. Ich dachte, wenn wir irgendwann weniger oft an die schmerzhaften Begebenheiten der letzten Jahre denken, dann würden wir dich vergessen. Elena hatte das auch einmal angesprochen, während unserer Abendroutine: „Ich weiß nicht mehr, wie der Papa riecht.“. Ich habe ihr versprochen, deinen Lieblingsduft, deine Reiselust deine Leibspeisen, deine klassisch-witzigen Aussagen; deine Eigenheiten, Vorlieben und Gewohnheiten immer wieder in Erinnerung zu rufen. So lebst du weiter mit uns, jeden Tag und besonders dann, wenn Elena Anekdoten von den Papawochenenden wieder gibt oder Fragen hat wo du jetzt bist. Sofern mein Verstand das überhaupt greifen kann. Ich beantworte ihr jede einzelne so aufrichtig wie möglich. Manchmal kommen mir selbst die Tränen. Ich spüre Überforderung aufkommen und Überlastung, wenn ich in ihre fragenden, tief blauen Augen schaue. Auf viele ihrer Fragen folgt oft Stille, die mehr sagt, als 1.000 kreative Antworten, die ich mir einfallen lassen könnte. Wir umarmen uns und fädeln weiter Perlen auf Elenas Halskette oder malen weiter in ihrem Skizzenblock (übrigens: Neuerdings will Elena nicht mehr nur Schminkerin werden, sondern auch Modedesignerin. Sie ist so wissbegierig und voller Tatendrang jeden Tag. Eine pure Freude sag‘ ich dir. Aber das weißt du ja, denn du bist jetzt ja überall!). Durch diesen täglichen Austausch – manchmal lustig, manchmal gemeinsam weinend/trauernd – merke ich, dass Erinnerungen nicht verschwinden, nur weil wir uns nicht ständig an sie klammern. Wenn ich trauernd schreibe, so darf das verzerrte Bild von wimmernden, opferzentrierten Hinterbliebenen in dunklen Gewändern und über Jahrzehnte in isolierten Lebensumständen gefangen entmystifizieren. Gerade heute meinte Elena, als ich ihr weinen beim Spielen mit den Nachbarskindern missinterpretierte und es auf dich als fehlenden Papa bezog: „Nein, ich bin nicht traurig wegen Papa. Er ist ja eh immer mein Papa und da.“ [Währenddessen deutete sie auf ihren Brustkorb]. Schlaues Mädchen.

Wir haben gelernt mit deiner Abwesenheit zu leben, ohne sie zu verdrängen. Es gibt Tage, an denen dein Suizid nicht fassbar ist, und dann wieder Tage, an denen ich einfach nur dankbar bin, dass es dich gab. Am 02. Mai dachte ich besonders intensiv an dich. Heuer vor 16 Jahren lernten wir uns beim Ausgehen kennen. Ich stellte mir an diesem Tag vor, wie es wohl wäre, mit einer Zeitmaschine zurück zu diesem Tag, an diesen Ort zu reisen. Ich nehme dich kurz mit in mein Gedankenexperiment: Damals am 02. Mai 2009, ca. 21.00 Uhr. Ich mit all dem Wissen von heute, gealtert, voller bittersüßer Erinnerungen an uns und du mit deinem hellblau-beige karierten Kurzarm-Hemd und dem Kärnten-Sport Gillet, deiner lockeren Jeans und deinen Sneakern, wild-lockigem Haar betratst du das Lokal. Wie Chris Martin jun. sahst du aus. Da waren wir also. Ich höre die Musik noch leise im Ohr – 2009er Hits. In meiner vorgestellten Zeitreise beobachte ich dich eine Weile, wie du ins Lokal kommst, mit deiner besten Freundin quatschst, lachst, dich lässig an die Bar lehnst und anfängst mich zu beäugen; später auf die neue Emanzipation pochst, die sagt: „Auch die Frauen dürfen mal eine Runde zahlen.“ Du sagtest, meine dunkelbraunen Stiefel wären dir gleich aufgefallen. Ich schaue dich an und sage kein Wort, weil nichts in meiner irdisch erlernten Sprache ausdrücken könnte, was ich in dieser zeitversetzten Begegnung – Kreuzung zweier Zeitachsen in der 2 Menschen mit unterschiedlichen Bewusstseinszuständen sich treffen – in Wahrheit gerne sagen möchte. Ich nehme dein Gesicht mit beiden Händen, die Tränen laufen mir übers Gesicht und ich ziehe dich sanft an mich, umarme dich. Es fühlt sich so echt an. Vorstellung ist viel besser als Kino! Unser gesamtes Nervensystem schafft es binnen Millisekunden, das vorgestellte Szenarien echter sind, als jeder 16:9 Blocbuster. Du fühlst dich so lebendig an und hast so übermütig-glückliche Augen. Es ist eine Umarmung, wie deine allerletzte von dir an mich knapp 28 Stunden bevor du deinem Leben ein Ende gesetzt hast. Wir lösen die Umarmung – du ziehst die Augenbraue hoch und schmunzelst, weil wir uns in deiner 2009er Version nicht wirklich kennen. Das Lächeln wird weniger, weil du in meinen Augen Traurigkeit und Mitgefühl siehst. Dankbarkeit flutet mein System, so viele schöne Momente kommen mir wieder in den Sinn und ich verlasse den 02. Mai – dem Tag als unsere gemeinsame Reise begann – in dieser Zeitreisenvariante. Da sind unsere unvergesslichen Reisen 1 x jährlich nach Kroatien, auf die Malediven, Berlin, Stuttgart, Santorini, Irland, Wien, Salzburg und Oberösterreich. Viele schöne Ausflüge, Almwanderungen, Treffen mit Freunden, Einladungen zu Grillabenden mit deinen extra scharfen Burgern oder Steaks (einen hast du mal in die Hecke geworfen, weil du dich mit dem Gasgriller so abgeärgert hast) mit grünen Bohnen und Speck + reichlich Piripiri und Chilli. Währenddessen spielen Coldplay, Buena Vista Social Club, das Eitweger Trio (du konntest es nicht lassen…haha), ACDC, Deichkind, U2, REM, Simply Red, Freddie Mercury, Metallica mit dem San Francisco Symphony Orchestra u.v.m. Du hast sehr gern gekocht und jedes Jahr aufs Neue positiven Blutrausch bekommen, immer wenn die Schwammerl- oder Spargelsaison gestartet hatte. Du hast deinen Freunden gern zugehört und super gern über die Arbeit philosophiert.

Vielleicht ist das die größte Lektion, die du mir hinterlassen hast: Dass Liebe nicht endet, nur weil jemand nicht mehr da ist. Diese Liebe spürt unsere Tochter, auch wenn du jetzt in der anderen Dimension ein Auge auf sie hast. Wir haben durch dich einmal mehr lernen dürfen, dass die Menschen, die wir körperlich verlieren, in uns weiterleben – in unseren Gedanken, in unseren Entscheidungen, in den Spuren, die sie in uns hinterlassen haben. Du bist überall – in jedem Regentropfen und -bogen, der Sonne, dem Wind und den Blättern. Du bist in Elenas Lachen und der Art wie sie Späße macht, deine Freude bleibt in deinen Lieblingsspeisen, -autos, -filmen und -liedern. Du bleibst unvergessen.

Es ist was es ist und das ewige Warum, das letzte, alte, längst ausgeschwungene neuronale Verbindungen hie und da zum Besten geben wollten; es spielt einfach keine Rolle. Wir tragen dich mit uns, Markus. Nicht länger den Schmerz, sondern die wunderbaren Aspekte und Eigenschaften, die du zurücklässt in dieser Welt und die ganz besonders in unserer Tochter weiterleben. Diese Aspekte spiegeln sich besonders in 2 Portraits, die ich von dir 2018 und 2019 machen durfte wieder. Du sprühst vor Liebe, Lebendigkeit, Bewusstheit; wirkst tiefgründig, abenteuerlich, attraktiv und lebenslustig. Diese Anteile behalten wir optisch und im Herzen. Das genügt. Wir wünschen dir, dass deine Seele nun aufatmen darf; die Leiden dieser letzten Inkarnation von 1982 – 2024 auf dieser Zeitlinie belassend; als Erfahrung würdigend, nicht als dramatisch-traumatische Endlosschleife, die transgenerational zu Lasten unserer Tochter ginge. Nein, nein. Die Gesetzte des Lebens sind andere und wir akzeptieren diese. Wir alle sind hier, um Erfahrungen zu machen, um zu wachsen, zu lernen, zu verinnerlichen. In unseren Körpern lernen wir am besten auf Zellebene. Wer tiefes Trauma, Leid und Schmerz erfahren hat, kann sich nun dem anderen Pol der Freude, Liebe und Lebendigkeit voll und ganz hingeben. Mögest du das tun, Markus – jetzt und in alle Zeit. Wir sehen und finden uns in der Ewigkeit wieder; womöglich in dieser Galaxie dieses Universum, das täglich unendlich Möglichkeiten für uns parat hält.

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